Die Psychotherapie ist vor allem eine Sprechtherapie. Über die Sprache können sich Klient*in und Therapeut*in verbinden und Türen öffnen zur eigenen Innenwelt. Seelisches Erleben kann durch Sprache für andere nachfühlbar werden. Aber das Medium Sprache hat auch seine Begrenzungen und es braucht Übung, um es so anwenden zu können, dass eine flüchtige subtile Erfahrung für jemand anderen verständlich wird. Hier können Gedichte helfen.
Jeder, der es einmal versucht hat, weiß wie schwierig es ist, anderen die eigenen Empfindungen mitzuteilen. Besonders wenn es nicht um oberflächliche Affekte, sondern um den Wesenskern, das eigene Selbst geht, fehlen uns die Worte, denn das Selbst drückt sich in Bildern aus.
Gedichte verdichten
Am ehesten gelingt die Kommunikation wohl mit einem Gedicht, denn diese Form „verdichtet“ die Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes und transportiert nur ihre Essenz. So wird das Erleben für andere nachvollziehbar, denn die äußeren Umstände mögen bei jedem Menschen anders sein, aber die Essenz teilen und verstehen alle.
Vielleicht gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Dichte, der „Konzentration“ des Erlebens und dem dichterischen Ausdruck. Je dichter wir an das wahre Selbst kommen, desto verdichteter werden die Empfindungen und desto mehr braucht es das Gedicht, um sie mitzuteilen. Nicht umsonst heißt es:
Lyrik ist die Sprache der Seele
Besonders die Naturlyrik kann einen hilfreichen Beitrag in der Naturtherapie leisten, indem sie Worte für Gefühle und Qualitäten des Erlebens anbietet, die die Klienten in der Natur erfahren, die aber mit der Alltagssprache nur schwer auszudrücken sind. Als ÔÇ×Sprache der SeeleÔÇ£ kann sie Menschen tief berühren und auch dazu ermutigen, sich anderen mitzuteilen. Bei meinen öffentlichen Lyrik-Lesungen im Wald passiert es z.B. oft, dass Besucher seufzend zustimmen: ÔÇ×Ja, das kenne ich auch.ÔÇ£ Einzelne Formulierungen aus Naturgedichten können Klienten als Hilfsmittel dienen, um seelische Zustände und Vorgänge auszudrücken. Vielleicht finden sie nach einiger Beschäftigung mit sich selbst sogar noch treffendere Worte in ihrer eigenen Sprache. Als kleine Übung könnten sie z.B. selbst ein Gedicht verfassen.
Gedichte als Wegweiser in der Naturtherapie
Aber nicht nur Klienten können sich mittels Naturlyrik ausdrücken, auch für die Therapeutin bietet sie die Chance, sich besser verständlich zu machen. Als Einstimmung auf eine psychotherapeutische Übung kann ein Gedicht die Klienten auf einer seelischen Ebene ansprechen und so den Weg bereiten für eine Bewegung vom ÔÇ×AlltagsbewusstseinÔÇ£ hin zu einer stärkeren Wahrnehmung innerer Befindlichkeiten. Besonders für sehr rationale Menschen ist dies ein Wegweiser, eine deutliche Einladung auf die Gefühlsebene.
Naturlyrik kann auch dazu anregen, die Erfahrungen des Dichters nachzuempfinden und sich selbst an die beschriebenen Schauplätze in der Natur zu begeben. Kühlt der Mond wirklich mit einem freundlichen Zauberhauch? Wie ist es, wenn der Himmel die Erde küsst? Was empfinde ich beim Anblick eines blühenden Kirschbaums? Ein Gedicht kann unsere Empfindungsfähigkeit vertiefen und zu einer intensiveren Beschäftigung mit der (eigenen) Natur führen. Und: Wer auf diese Weise in die Fußstapfen der Dichter vergangener Epochen tritt, erlebt ein Gefühl der Verbundenheit über die Zeit hinweg. Er erfährt sich selbst als zugehörig zum Menschengeschlecht. Und allein das ist schon eine heilsame Erfahrung.
Mondnacht
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
(Joseph von Eichendorff)
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